Gesten ins Leere Drucken
Thomas Schmid - Berliner Zeitung - 04.03.2000

Tanger ist nicht mehr der mythische Ort amerikanischer Beatniks. Auf der Mauer am Hafen sitzen Afrikaner und starren auf Europa

Die weiße Stadt thront über dem tiefblauen Meer, nur durch einen breiten Sandstreifen von diesem getrennt. Tanger zeigt sich dem Fremden, der auf dem Seeweg ankommt, von seiner schönsten Seite. Etwas mehr als eine Stunde dauert die Überfahrt vom äußersten Süden Spaniens durch die Straße von Gibraltar zum äußersten Norden Marokkos. Mythos Tanger, Tanger die weiße Taube auf der Schulter Afrikas, Zuflucht verlorener Seelen.

Spätestens an der Hafenchaussee holt die Realität den Fremden ein. Aus weiß ist grau geworden und aus Stille Lärm. Es riecht nach Öl und Ruß. Hinter einem geparkten Laster schnüffeln Kinder an leimgefüllten Plastiktüten. Abfall säumt die Bürgersteige. Tanger, das Tor zu Afrika, ist ziemlich dreckig.

Fünf Marktgassen münden in den Petit Socco, einen kleinen Platz in der Medina, der Altstadt. An einer Ecke des Platzes brüllt ein junger Mann, in Lumpen gehüllt, unverständliche Worte. Er schreit auf jemanden ein, der nicht da ist, gestikuliert ins Leere. Vielleicht ist er von der Aicha Qandicha besessen, dem weiblichen Geist, die den Männern, die sich nach ihrer flötenden Stimme umblicken, den Kopf verdreht, bis sie dem Wahn verfallen. Dass es die Aicha Qandicha gibt, dass sie Männer verführt und Ehen ruiniert, daran besteht für viele Marokkaner kein Zweifel. Doch die Gäste im Café nehmen keine Notiz vom seltsamen Auftritt. Der Verrückte ist jeden Tag hier.

Ein Trauerzug biegt auf den Platz ein. Trommeln werden gerührt. Sechs Männer tragen den in ein grünes Tuch gehüllten Leichnam auf ihren Schultern. Der Verrückte verstummt. Die Prozession von Männern, alle im Djellaba, dem traditionellen knöchellangen Gewand mit spitzer Kapuze, einige mit bordeauxrotem Fez oder weißer Kappe auf dem Kopf, überquert den Platz und verschwindet in einer der engen Gassen. Die Trommeln werden leiser und der Mann in Lumpen wieder lauter.

Vom Petit Socco sind es nur einige Schritte an der Großen Moschee vorbei, die da errichtet wurde, wo einst die portugiesische Kathedrale stand, die ihrerseits auf den Fundamenten einer früheren Moschee gebaut wurde bis zu einer großen Terrasse, die den Blick auf den Hafen und das Meer freigibt. Am Horizont ist deutlich die Küste Spaniens zu erkennen. Zwei Dutzend Schwarze, alle in Rapper-Hosen und gestopften Windjacken, sitzen auf der Mauer und starren auf Europa. Sie sind aus dem Kongo, aus Kamerun, Liberia, Senegal, Bürgerkriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge, die sich durch die Sahara geschlagen haben. Sie haben ihre Eltern und Freunde verlassen, ein unsicheres Zuhause gegen eine unsichere Zukunft getauscht. Sie haben Zöllner bestochen, weil sie keinen Pass haben. Denn der Besitz von Dokumenten steigert das Risiko, ausgewiesen zu werden. Bis auf Robert aus Liberia, der auf einem Frachtschiff zwischen Containern versteckt nach Casablanca gelangt ist, sind sie alle über Algerien gekommen, das seine Grenzen zu Marokko seit fünf Jahren gesperrt hat.

Alle wollen sie nach Ceuta, der spanischen Exklave auf dem afrikanischen Festlandsockel, die etwa hundert Kilometer entfernt, am östlichen Ausgang der Meerenge, gegenüber dem Felsen von Gibraltar liegt und durch einen streng überwachten Metallzaun vom marokkanischen Hoheitsgebiet getrennt ist. Ein Schlepper wird sie an den Zaun bringen, und dort wird ein marokkanischer Polizist die Hand aufhalten und ihnen ein Loch im Zaun zeigen. Danach werden sie zwar noch in Afrika, aber schon in der Europäischen Union sein. Nach einer Wartezeit werden sie ganz legal nach Europa übersetzen, weil Spanien sie nur nach Marokko ausweisen könnte, das sie vertraglich auch zurücknehmen müsste, dies aber nicht tut, mit dem Verweis, die Flüchtlinge seien nicht aus Marokko nach Ceuta gekommen. Als ob sie vom Himmel gefallen wären.

Antoine, aus dem Kongo, ist dem Bürgerkrieg entflohen, vielleicht auch nur dem Elend. Er sagt, Ceuta sei UN-Zone und will nicht glauben, dass Spanien noch immer Territorium in Afrika besitzt. Erst Driss, ein junger Marokkaner, kann ihn schließlich davon überzeugen. Er versucht nun, dem katholischen Kongolesen auch noch die Vorzüge des Islam nahe zu bringen. Antoine hat nichts gegen den Islam, es will ihm bloß nicht in den Kopf, weshalb ein Muslim gleichzeitig vier Frauen haben kann. Driss führt zwei Argumente zur Verteidigung der Polygamie an: Erstens gehe damit die Prostitution zurück, und zweitens würden zumindest in Marokko mehr Mädchen als Jungen geboren, ein Missverhältnis, das sich möglicherweise durch Krieg noch verschärfe, und da bringe die Polygamie eine gewisse Entspannung. Als gläubiger Muslim besteht Driss allerdings darauf, dass nach dem Koran ein Mann nur mehrere Frauen haben dürfe, wenn er ihnen allen Liebe und Zuneigung in gleichem Maße zukommen lasse. Wie das nun aber gehen soll, ist Antoine ein Rätsel. Er träumt von einer Frau fürs Leben, eine würde ihm reichen.

Mohamed Choucri ist ein elegant gekleideter älterer Herr mit feinen Gesichtszügen und gepflegtem Schnurrbart. Dem kleinen Platz in der Medina von Tanger hat er einen Roman gewidmet, der auch in deutscher Sprache unter dem Titel "Zoco Chico" erschienen ist. Er handelt von einem marokkanischen Jugendlichen aus der untersten Gesellschaftsschicht, der dort auf zivilisationsmüde westliche Aussteiger trifft. Sie zechen und kiffen zusammen, führen ein ausschweifendes Leben, aber der junge Marokkaner macht die Erfahrung, dass die anderen ihm letztlich doch fremd bleiben und er ihnen.

Choucri kennt den Petit Socco, den Zoco Chico. Er hat dort gekifft, gesoffen und gehurt, und er hat auf dem Straßenpflaster manchen Rausch ausgeschlafen. All dies hat er in seinem autobiografischen Roman "Das nackte Brot" öffentlich gemacht. Das Buch, inzwischen in fast zwei Dutzend Sprachen erschienen, war in Marokko lange Zeit verboten. Im Alter von sieben Jahren war Choucri 1942 mit seiner Familie aus einem kleinen Dorf im Rif-Gebirge nach Tanger gekommen, hatte sich mittellos durchs Leben geschlagen. Erst mit 21 Jahren, als Marokko unabhängig wurde, hatte er lesen und schreiben gelernt. Paul Bowles, der Anfang Dezember verstorbene amerikanische Komponist und Schriftsteller, hatte ihn ermuntert, seine Erfahrungen niederzuschreiben. "Heute ist alles noch schlimmer", sagt Choucri. "Heute nehmen die Jugendlichen härtere Drogen, wir fanden noch Gelegenheitsarbeiten, die Straßenkinder von heute sind verlorener, als wir es waren... Damals gab es noch die Möglichkeit der Emigration. Und heute? Keine Woche ohne Meldung über Marokkaner, die beim Versuch, in Booten die Straße von Gibraltar zu überqueren, jämmerlich ertrinken."

Die amerikanischen Beatniks, die angezogen von Paul Bowles, aber auch von billigen Drogen und billigem Sex, in den 50er-Jahren nach Tanger pilgerten, kannte Choucri alle: William Borroughs, der in den USA Privatdetektiv, Insektenforscher, Barmixer und Kammerjäger war, dann in Mexiko versehentlich seine Frau erschoss (er hatte Wilhelm Tell nachgespielt und auf das Whisky-Glas auf ihrem Kopf gezielt), dann in Tanger "The Naked Lunch" schrieb und nach einer Drogenentziehungskur in den USA schließlich angesehener Wissenschaftler wurde; Jack Kerouac, der Autor des Kultbuches "On the Road", der in Tanger ebenfalls schnell süchtig wurde; Allen Ginsberg, der Lover Borroughs ; Alfred Chester, der Selbstmord beging. "Der Unterschied zwischen ihnen und mir bestand darin", sagt Choucri, "dass sie alle ihre Existenz am Rand der Gesellschaft selbst gewählt haben und ich eben nicht". Marokko habe sie letztlich nie interessiert. Auch Paul Bowles, der immerhin über ein halbes Jahrhundert in Tanger verbrachte, habe die marokkanische Gesellschaft nicht begriffen. "Tanger hat ihn inspiriert", sagt Choucri, "aber es blieb ihm fremd." Von all den Schriftstellern, die nach Tanger kamen, habe allein Jean Genet die Marokkaner verstanden.

Tanger, das Ziel einer Generation von Aussteigern, die europäischste Stadt Marokkos, ist heute vor allem Durchgangsstation auf dem Weg nach Fes und Marrakesch, Städte mit orientalischem Zauber.Zwar hat auch Tanger einiges zu bieten: eine weitgehend intakte Kasbah mit Moschee, Schatzkammer und Sultanspalast, die man durch die Bab el Assa betritt, die auch "Porte de la Bastonnade" heißt, weil früher hier Missetäter öffentlich geprügelt wurden, oder etwa das Forbes-Museum mit seinen 115 000 Zinnsoldaten, die die martialischen Höhepunkte aus Jahrhunderten europäischer und marokkanischer Geschichte darstellen: Die Schlacht von Waterloo, den Aufstand der Rif-Kabylen gegen Spanier und Franzosen oder de n "Grünen Marsch" der Marokkaner, zu dem König Hassan II, der im vergangenen Juli verstorbene Vater des heutigen Monarchen, seine Untertanen aufrief, um die Westsahara zu annektieren. Doch Tanger ist den meisten Reisenden bestenfalls einen halben Tag wert. Zum Niedergang hat beigetragen, was die Fremden einst angezogen hat: die Droge. Nicht so sehr der Kif aus dem nahen Rif, dem größten Cannabis-Anbaugebiet der Welt, der, zu Haschisch gepresst, in einem geschätzten Wert von drei Milliarden Mark pro Jahr im Raum Tanger umgeschlagen wird, sondern vor allem das Heroin, dessen Konsum dramatisch zugenommen hat. Und so ist Tanger heute marokkanischer Spitzenreiter, was Raub- und Diebstahldelikte betrifft.

Der 56-jährige Akalay ist ein eher zurückhaltender Mensch. Er wirkt introvertiert, etwas schüchtern. Doch vor drei Jahren hat er Schlagzeilen gemacht. Damals kam sein erstes Buch auf den Markt, "Azeds Nächte", und wurde ein Bestseller. Es ist ein Roman über das Schicksal der Frau in der marokkanischen Gesellschaft. Wie wenig die Frau in der marokkanischen Öffentlichkeit zählt, verrät schon die Sprache. Man fragt seinen Freund nie: "Wie geht es deiner Frau?" sondern "Wie geht es dem Haus?" Akalay hat Zweifel, ob die Marokkaner für die Demokratie überhaupt reif sind, und schimpft auf Korruption, administrative Schlamperei und über den Dreck in den Straßen der Stadt.

Inzwischen hat Akalay ein zweites Buch geschrieben. Es handelt vom berühmtesten Mann, den Tanger hervorgebracht hat: Ibn Battuta. Er ist für den Orient, was Marco Polo für den Okzident ist. Ein Jahr nachdem der Italiener starb, machte sich der Marokkaner 1325 zu einer Pilgerreise nach Mekka auf. Doch statt anschließend nach Hause zurückzukehren, reiste er weiter nach Indien, in die Mongolei, bis nach China und betrat erst 1349 wieder marokkanischen Boden. Er suchte alsbald den Sultan auf, der damals in Fes residierte und einen Kalligrafen anwies, den Bericht des Ankömmlings aufzuschreiben. "Alle Welt kennt Marco Polo", sagt Akalay, "sein Buch, das er in genuesischer Gefangenschaft einem Mithäftling diktierte, war schon kurz nach Erscheinen in sechs Sprachen übersetzt.

Wer aber kennt schon Ibn Battuta? Dabei ist der länger gereist und auch weiter als der Italiener. Doch sein Bericht wurde erst im 19. Jahrhundert in eine Fremdsprache, ins Französische, übersetzt." Akalay, der das 1 800 Seiten dicke Buch Ibn Battutas neu geschrieben hat, ahnt, weshalb alle Welt Marco Polo kennt und kaum jemand den Marokkaner aus Tanger. "Marco Polo", sagt er, war ein Kaufmann aus Venedig und hatte also kommerzielle Interessen, Kolumbus wollte die Westroute nach Indien entdecken, Ibn Battuta aber war weder Kaufmann noch Forscher, er war Jurist, er reiste ohne bestimmte Absichten, er war der erste Tourist."