Haiti im Teufelskreis |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 15.01.2010 Nichts
bleibt diesem Inselstaat erspart, ein Fluch scheint auf ihm zu lasten.
Gewalt und Katastrophen prägen die Geschichte Haitis, Aufruhr und
Hoffnungslosigkeit. Immer wenn am Horizont ein Hoffnungsschimmer
aufleuchtet, folgt ein gewaltiger Schlag, und das Land verschwindet
wieder im Dunkeln. Im Jahr 2008 zerstörten gleich vier Hurrikane die
höchst bescheidenen Erfolge einer wirtschaftlichen Entwicklung, und
jetzt, da es den Blauhelmen der Uno endlich gelungen ist, den
bewaffneten Gangs die Kontrolle über ganze Stadtteile zu entreißen, den
alltäglichen Entführungen Einhalt zu gebieten und eine minimale
Sicherheit herzustellen, stürzt ein Erdbeben das Land in den Abgrund.
Noch ist das Ausmaß der Katastrophe nicht zu ermessen, und noch weniger
sind es die politischen und sozialen Folgen. Wird es zu Hungerrevolten
kommen? Werden angesichts des Mangels an Trinkwasser und Medikamenten
Seuchen ausbrechen? Wie geht es weiter im ärmsten Land der westlichen
Hemisphäre? Haiti teilt sich die Karibikinsel Hispaniola mit der
Dominikanischen Republik. Während diese sich, auch dank des blühenden
Tourismus, zu einem stabilen Land entwickelte, versank Haiti periodisch
in Gewalt und Chaos. Dabei war es einst die reichste Kolonie
Frankreichs und produzierte Ende des 18. Jahrhunderts mehr als die
Hälfte des weltweit konsumierten Kaffees und mehr Zucker als Kuba oder
Jamaika. Doch es ist, als wäre es für seine Frechheit bestraft worden.
Die Parolen der französischen Revolutionäre von Freiheit, Gleichheit
und Brüderlichkeit, die nur an die Europäer gerichtet waren, hörten im
westlichen Teil der Karibikinsel auch die Sklaven und schüttelten die
Kolonialherrschaft ab. 1804 war Haiti nach den USA der zweite
unabhängige Staat Amerikas. Doch im Bürger- und Unabhängigkeitskrieg
kam nicht nur mehr als die Hälfte der Bevölkerung zu Tode, die
Auseinandersetzungen hinterließen auch ein zerstörtes Land mit
abgefackelten Plantagen und niedergebrannten Städten. Erzwungene
Reparationszahlungen an Frankreich und Misswirtschaft der völlig
unerfahrenen Regierungen des neuen Staates taten ein Übriges. Bis heute
hat sich Haiti von diesem schwierigen Start in die Unabhängigkeit nicht
erholt. Ein weiterer Grund für die Misere Haitis ist die
chronische Gewalt, die das Aufkommen einer Zivilgesellschaft abwürgte.
Im 19. Jahrhundert brachte nur ein einziger Präsident seine Amtszeit
regulär zu Ende, und nur wenige Staatschefs starben eines natürlichen
Todes. Im 20. Jahrhundert forderte allein die Diktatur der Duvaliers -
Papa Doc und Baby Doc - 60 000 Tote. Die größten Hoffnungen der Elenden
Haitis vereinte der Armenpriester Jean-Bertrand Aristide auf sich. Über
zwei Drittel der Haitianer wählten ihn 1990 zu ihrem Präsidenten.
Sieben Monate später putschten ihn die Militärs ins Exil. Als er 1994
auf den Bajonetten der USA an die Macht zurückkam, bereiteten ihm die
Haitianer einen frenetischen Empfang. Als erste Maßnahme löste der
Rückkehrer per Dekret die allzeit putschbereite Armee auf. Seine
Herrschaft stützte er in seiner dritten Amtszeit nur noch auf
bewaffnete Gangs. Gerade die trugen dann 2004 entscheidend zu seinem
Sturz bei. Am Elend der Haitianer hatte sich unter Aristides Herrschaft
nichts geändert, aber sie waren um eine Riesenhoffnung ärmer. Haiti,
ein scheiternder Staat, ohne eigene Bodenschätze und ohne Tourismus,
mit weithin entwaldeten Bergen und erodierten Böden, ist nicht nur
wirtschaftlich vollkommen von internationaler Hilfe abhängig, sondern
auch politisch. Das Land schafft es nicht, aus eigener Kraft einen
funktionierenden Staat aufzubauen, einen Staat der seinen Bürgern
Sicherheit vor bewaffneten Banden bietet und befahrbare Straßen baut -
beides Voraussetzungen, um das durchaus vorhandene touristische
Potenzial zu nutzen und lokale Märkte zu entwickeln. All dies sind
mittel- und langfristige Perspektiven. Kurzfristig gibt es für Haiti
keine Lösung. Aber es braucht Hilfe. Die nächste Naturkatastrophe - ob Erdbeben, Tornado oder Überschwemmung - kommt bestimmt. Sie wird Haiti umso härter treffen, je ärmer das Land ist. Hilfe kommt schneller an, wenn es Straßen gibt. Sie ist effizienter, wenn die örtlichen Verwaltungsstrukturen funktionieren. Krankenhäuser sind stabiler, wenn bei ihrem Bau die Gesetze der Statik beachtet werden. Jede Katastrophe schafft neue Armut, und jede weitere Verarmung potenziert die Wirkung von Katastrophen. Aus diesem Teufelskreis helfen nur wirtschaftliche Entwicklung und der Aufbau eines funktionstüchtigen Staatswesens. Beides setzt viel Geld und ein starkes internationales Engagement voraus. Der in Haiti von der Staatengemeinschaft eingeschlagene Weg ist insofern durchaus richtig, auch wenn das Erdbeben die bescheidenen Erfolge möglicherweise zunichte gemacht hat. Dann braucht es allenfalls noch mehr Geld und noch mehr Blauhelme. Das schwer zerstörte Haiti darf nicht, wie so viele afrikanische Staaten, sich selbst überlassen werden. © Berliner Zeitung |