Der Fluch der Armut |
Thomas Schmid, Frankfurter Rundschau, 20.11.2010
Erdbeben, Tornados, Überschwemmungen und nun die Cholera. Haiti scheint ein von biblischen Plagen heimgesuchtes Land, von Gott bestraft. So sehen es viele Haitianer. Das Cholera-Bakterium vermehrt sich in rasender Geschwindigkeit und rafft immer schneller immer mehr Leute dahin. Noch ist unklar, ob die große Katastrophe eintrifft, ob es zum Massensterben in den Elendsvierteln von Port-au-Prince kommt und in den Zelten, in denen seit dem Erdbeben noch immer etwa die Hälfte der drei Millionen Einwohner der Hauptstadt lebt. So weit muss es nicht
kommen. Vielleicht helfen Aufklärungskampagnen, Disziplin, Vorsicht.
Cholera ist relativ einfach zu heilen. Wer rechtzeitig Hilfe findet,
überlebt. Cholera, eine Darminfektion, wird üblicherweise nicht von
Mensch zu Mensch übertragen. 90 Prozent der Kranken haben sich über
verunreinigtes Wasser angesteckt. Das eigentliche
Problem ist nicht das Bakterium Vibrio cholerae, sondern es ist die
Armut, es ist der marode Staat. Deshalb forderte in Haiti das Erdbeben
250.000 Tote, hundertmal mehr als ein stärkeres Erdbeben in Mexiko-Stadt
1985, fast 400 Mal so viel wie das stärkere Erdbeben in diesem Jahr in
Chile. Die Tornados, die im Herbst über der Karibik wüten, und die ihnen
folgenden Überschwemmungen hinterlassen in Haiti jedes Jahr Hunderte
Leichen. Im benachbarten Kuba beispielsweise evakuiert die Regierung in
kurzer Zeit notfalls mehr als eine Million Menschen. Armut
hat viele Facetten: Mangel an Nahrung, Mangel an trinkbarem Wasser,
Mangel an Hygiene, Mangel an Sicherheit. Nur 28 Prozent der Haitianer
haben zu Hause eine Toilette, zwei Drittel können nicht lesen und
schreiben, 70 Prozent sind ohne Arbeit. Für diese Misere gibt es viele
Gründe: Sie wurzeln zum Teil in der Geschichte, in der Abholzung der
Wälder, in der Profitgier von Diktatoren, in der Korruption demokratisch
gewählter Regierungen und wohl auch in der Entwicklungshilfe des
Nordens. Gewiss, nach Naturkatastrophen ist Soforthilfe
jeder Art absolut vordringlich. Sie rettet Leben. Aber zur Zeit
erzeugen – gewiss ungewollt – in Haiti hunderte humanitäre
Organisationen bei der völlig mittellosen Bevölkerung eine
Erwartungshaltung, die Selbsthilfe lähmt. Zudem: Wie soll ein
staatliches Gesundheitswesen funktionieren, wenn die wenigen Ärzte, die
überhaupt im Land bleiben und nicht in die USA emigrieren, bei den
ausländischen Humanitären doppelt so viel verdienen wie beim eigenen
Staat? Einfache Antworten gibt es nicht. Aus diesem
Dilemma wird letztlich aber nur eines heraushelfen: Es müssen stabile
staatliche Institutionen geschaffen werden, in die die Gesellschaft
vertrauen setzen kann. Von der bizarren Diktatur der Duvaliers – „Papa
Doc“ von 1957 bis 1971 und seinem Sohn „Baby Doc“ von 1971 bis 1986 –
über die diversen Militärregimes bis zur demokratisch gewählten
Linksregierung des Armenpriesters Aristides haben die Haitianer nur
Korruption und Gewalt gekannt. Aus eigener Kraft haben sie es nicht
geschafft, diesem Teufelskreis zu entkommen. Seit 2004 ist deshalb die
UN-Mission Minustah im Land. Ihre Aufgabe ist es, für Sicherheit zu
sorgen und Hilfe beim Aufbau eines Rechtsstaats zu leisten. Die
erste Aufgabe hat Minustah erfüllt. Während vor vier Jahren noch ganze
Stadtteile von Port-au-Prince von schwer bewaffneten Gangs kontrolliert
wurden, herrscht heute in der Hauptstadt mehr Sicherheit als je in der
jüngeren Geschichte Haitis. Bei der zweiten Aufgabe hat sie allerdings
versagt. Ein funktionierendes Polizei- und Justizwesen gibt es bis heute
nicht. Und: Haiti ist der korrupteste Staat in Lateinamerika. Die
Abhängigkeit von internationaler Hilfe empfinden viele Haitianer aber
als Demütigung. Haiti war der erste unabhängige Staat Lateinamerikas,
hervorgegangen aus einer Rebellion der Sklaven gegen die ausländischen
Kolonialherren. Darauf ist man stolz. Heute ist Haiti der ärmste Staat
Lateinamerikas und die militärische Macht liegt bei den Ausländern der
UN, die gut verdienen und mit teuren weißen Jeeps durchs Land kurven.
Die Blauhelme sind weithin unbeliebt. Dass sie möglicherweise auch noch
die Cholera ins Land eingeschleppt haben, könnte das Fass zum Überlaufen
bringen. Es gibt in Haiti viele Kreise, die in trüben Wassern erfolgreicher fischen als unter rechtsstaatlichen Verhältnissen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass hinter den Angriffen auf die Blauhelme in Cap Haitien, der zweitgrößten Stadt des Landes, politische Kräfte stecken, denen es darum geht, Chaos zu schaffen und die Wahlen vom 28. November zu verhindern. Ein Staat ohne legitimierte Verfassungsorgane aber würde das Land noch mehr in die Krise stürzen und noch mehr vom Ausland abhängig machen. Die internationale Gemeinschaft stünde bei einer solchen Entwicklung nicht ohne Schuld da. |